Ja oder Nein – ein Versuch, das politische Geschehen zu erfassen

Riobamba, Ecuador                                                                            4. Februar 2018

Am heutigen Sonntag findet in Ecuador ein umstrittenes Volksabstimmung statt. Dies möchte ich zum Anlass nehmen, ein wenig von der politischen Situation in Ecuador zu berichten. Natürlich bin ich mir im Klaren darüber, dass ich als junge Ausländerin, die gerade einmal fünf Monate hier ist und immernoch nicht alles versteht, euch keine umfassende fundierte Analyse geben kann wie ein*e ecuadorianische*r Journalist*in oder Politikwissenschaftler*in es könnte. Ich habe selbst nur einen kleinen, beschränkten Einblick auf das Geschehen. Nichtsdestotrotz bin ich bemüht, nachzufragen, zuzuhören, mich über das Tagesgeschehen und die Politik der letzten Jahre zu informieren.

Aber mal ganz ehrlich – wo fängt man an? Wie beschreibt man die „politische Situation“ eines Landes? Bevor du weiterliest, halte bitte kurz inne und überlege dir, wie du auf einer A4-Seite einem/einer Ausländer*in die politische Situation Deutschlands erläutern würdest?

Schwierig, nicht wahr? Würdest du über die Parteienlandschaft schreiben oder über das Grundgesetz, über das Wahlsystem und die politischen Organen oder über die Regierung der vergangene Legislaturperiode, die aktuellen Herausforderungen und Tagesthemen?

Ecuador ist eine repräsentative Demokratie. Alle vier Jahre wird der Präsident und die Nationalversammlung, die „Asamblea Nacional“, direkt vom Volk gewählt. Dabei herrscht Wahlpflicht für alle Volljährigen. Die Regierung und die Nationalversammlung bilden die Legislative. Die Regierung die Exekutive.

Der Präsident ist gleichzeitig Staats- und Regierungschef. In jeder der 24 Provinzen, die jeweils in Kantone und Gemeinden unterteilt sind, und in den Kantonen setzt er die Gouverneure ein. Die Bevölkerung wählt zusätzlich Präfekte, die die Kantone verwalten.

Die 24 Provinzen Ecuadors
Banco Central de Ecuador – Die Nationalbank in Quito, nach der Dollarisierung hat sie keinen Einfluss mehr auf die Geldpolitik

Kurz vor dem Ende des letzten Jahrtausends erlitt Ecuador eine schwere ökonomische Krise und ein starke Inflation. Dadurch wurde die Währung im Jahr 2000 auf den US-Dollar umgestellt. So wurde der Währungsverfall aufgehalten und der Wert der Währung stabilisierte sich. Die Folgejahren waren jedoch politisch weiterhin instabil. „Ein Klima politischer Instabilität und eine Krise des Vertrauens und der Legitimität der neuen demokratischen Institutionen charakterisierten den Beginn des neuen Jahrhunderts.“ (María Cristina Bastidas Redin, 01.01.2018 : Die Geschichte einer Scheidung: Ecuador zwischen Rafael Correa und Lenín Moreno)

Präsidentenpalast in Quito

Im November 2006 wurde dann der Wirtschaftswissenschaftler und ehemalige Wirtschaftsminister Rafael Correa zum Präsidenten gewählt, der keiner Partei angehört, sondern seiner neu gegründeten Bewegung „Alianza PAIS“. Er ist gemäßigter Anhänger des „Sozialismus des 21. Jahrhunderst“ wie der verstorbene venezolanische Präsidente Hugo Chavéz und der bolivianische Präsident Evo Morales. Von da an regierte er 10 Jahre  und setzte entscheidene Reformen um. Nach einer erfolgreichen Volksabstimmung wurde 2007 eine verfassungsgebende Versammlung eingerufen, die die sogenannte „Verfassung von Montechristi“ erarbeitete, die von der Nationalversammlung und dem Volk 2008 bestätigt wurde.

Fahne der indigenen Bewegung

Die Verfassung sollte strukturelle Defizite beseitigen und die Unabhängigkeit der Staatsgewalten garantieren. In der neuen Verfassung wurde – weltweit einmalig-  ein Recht auf gutes Leben verankert- ein Konzept, das aus der indigenen Weltanschauung stammt und „Sumak Kawsay“ auf Quichua oder „Buen Vivir“ auf Spanisch genannt wird. Außerdem wird die Natur als selbstständiges rechtliches Subjekt angesehen, das de iure einklagbare Rechte hat. Dennoch setzte er die Ölförderung im Nationalpark Yasuni fort – trotz innerere Konflikte mit den Indigenen des Regenwaldgebiets  und weltpolitischer Auseinandersetzungen, die bis in die Vereinten Nationen getragen wurden und zur Kündigung der Entwicklungszusammenarbeit bei Umweltthemen mit Deutschland führte.

Die Verfassung von 2008 stellte einen wichtigen Schritt von Correas Plan zur Veränderung und Entwicklung des Staats dar. Er nannte diesen Plan „Revolución Ciudadania“, übersetzt „Bürgerrevolution“. Bei erneuten Wahlen 2009 ließ er sich im Amt bestätigen und wurde damit der erste Präsident Ecuadors, der schon im ersten Wahldurchgang mit 51,9% eine Wahl gewann und eine Mehrheit in der Nationalversammlung hinter sich hatte. Dies ist aufgrund des breiten Parteienspektrums und des verschachtelten Wahlsystems sonst nicht der Fall.

Correa machte das Gesundheitssystem für alle zugänglich. Krankenhaus des Sozialversicherungsinstitut IESS

Correas Bürgerrevolution erwirkte tief greifende Veränderungen in vielen Bereichen, unter anderem reduzierte er die Auslandsverschuldung, machte das Gesundheits- und Bildungssystem für alle zugänglich und bekämpfte die Armut, die er um 38% senken konnte. Er schuf viele Stellen im öffentlichen Sektor (2007: 460.182 Angestellte im Staatsdienst, 2016: 691.083) und schaffte formale Beschäftigungsverhältnisse. Der staatlich garantierte Mindestlohn wurde auf ca. 350$ im Monat erhöht, außerdem wurde in große Infrastruktur-Projekte wie Schulen oder Straßen investiert.

Der Preis, den die Bevölkerung dafür zahlte, war eine Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit, indem Demonstrationen und private Medien reglementiert und überwacht, sogar verboten wuden. 2017 wurde Ecuador von der NGO „Reporter ohne Grenzen“ auf Platz 105 von 180 eingestuft (Quelle: Reporter ohne Grenzen https://www.reporter-ohne-grenzen.de/rangliste/2017/) Erst unter dem jetzigen Präsident wird wieder stärker demonstriert und die Medien können unabhängig berichten. Correas Amtshandlungen werden nun von vielen Teilen der Gesellschaft kritisch betrachtet.

Wahlplakat: JA wählen bei der Volksabstimmung am 4. Februar 2018

Im Frühjahr 2017 wurde nach einem Jahrzehnt Correas Nachfolger gewählt: Lenín Moreno, auch von der Partei „Alianza PAIS“. Seitdem stellt sich jedoch heraus, dass die beiden unterschiedliche Positionen vertreten, wodurch es innerparteiliche Spannungen in der Alianza PAIS gab und der Ex-Präsident Correa kürzlich aus der Regierungspartei austrat. Der Ex-Vizepräsident Jorge Glas ist außerdem wegen Korruption angeklagt. Mit der heutigen Volksabstimmung, die aus sieben Fragen zu Verfassungsänderungen besteht, bei der aber das Verfassungsgericht übergangen wurde, will Moreno einige Entscheidungen seines Vorgängers umkehren und eine Wiederwahl Correas im Jahr 2021 verhindern.

Es würde mich interessieren, ob in den deutschen Medien über die Volksabstimmung in Ecuador berichtet wurde und was ihr von den Informationen schon wusstet… In den Nachrichten wird kaum über Lateinamerika berichtet, ich selbst habe mich auch erst im Rahmen des Freiwilligendienstes mit ecuadorianischer und südamerikanischer Politik und Geschichte beschäftigt. Wer mehr wissen will, wird beim Nachrichtenportal amerika21.de fündig , das deutschsprachige Nachrichten und Analysen über Lateinamerika verbreitet: https://amerika21.de/

[Update 5.2.2018: Der Ausgang der Volksabstimmung: Alle Fragen wurden mehrheitlich mit Ja beantwortet.]

Quellen und Hintergründe:

Konzept des Guten Lebens in der ecuadorianischen Verfassung

Bilanz der Ära Correa:

Regierung unter Moreno – Konflikt in der Alianza Pais – Referendum:

Eine Antwort auf „Ja oder Nein – ein Versuch, das politische Geschehen zu erfassen“

  1. Hallo liebe Anna, bravo für deine Arbeit, die du mit diesem Bericht geleistet hast. Wir staunen und bewundern dich über deine Arbeit und damit deinen Wissensdrang auf allen Gebieten. Und die Politik ist in meinen Augen sehr kompliziert. (Habe mich erst in den letzten Jahren etwas dafür interessiert). All diese Informationen und Beiträge zusammen zu tragen muss doch jede Menge Zeit und Mühe gekostet haben. Du bist ein Genie!!
    Ganz liebe Grüße von deiner Oma Gisela und auch von Opa Günter

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